Die Geschichte des Märchens

Das Volksmärchen, so wie wir es heute bezeichnen, und das, was die meisten Menschen (die nicht Germanisten sind) darunter verstehen, existiert nicht. Der Begriff „Volksmärchen“ ist durch Herder und andere Vertreter des Sturm und Drang geprägt und bezeichnet ein Märchen in „volkstümlichem“ Ton, das heißt, in einem wenig komplizierten Sprachstil, der von jedem – auch von weniger gebildeten Menschen – verstanden werden konnte. Es gibt also nicht „das“ Märchen oder „den Märchenstil“, der seinen Ursprung im Volk hat, sondern nur Märchen und Erzählungen, die unter anderem in Volk und Bürgertum erzählt wurden, die möglicherweise eine Wurzel auch in der sozial niedrigeren Schicht hatten. Die häufig als „Volksmärchen“ bezeichneten Erzählungen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm sind also nicht Märchen einer bestimmten Form, sondern Märchen aus einer bestimmten Zeit und mit einem relativ einfach gehaltenen Erzählmuster. Die in der verschriftlichten Form vorkommende Sprache ist möglicherweise von den Gebrüdern Grimm und deren eigenem Sprachstil beeinflußt.

Märchen unterschiedlicher Art gibt es bei vielen Völkern. Ihre Motive und Muster, ihre Bilder und ihre bipolare Struktur ähneln sich häufig. Somit müssen alle Aussagen, die „das Märchen“ betreffen, auf Hintergrund dieses Vorwissens betrachtet werden.

Der „Märchendiskussion“, das heißt der psychologisch und pädagogisch orientierten Untersuchungssicht, ging es vorwiegend um die Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm und Bechstein in ihrer verschriftlichten Form. Diese „volkstümliche“ Art der Märchen muß von der durch die Romantiker geprägten Gattung der Kunstmärchens unterschieden werden.

Im Kunstmärchen herrschen persönliche imaginative Symbole vor, die also damit der These des „kollektiven Unbewußten“ Jungs (Vgl. III.2.2.) in der psychoanalytischen Betrachtungsweise nicht entsprechen. Weiterhin treten im Kunstmärchen Durchkreuzungen des märchenhaften „Glücksprinzips“ durch die Realität auf. Ein skeptisches Verhältnis zur Wirklichkeit kann hervorgerufen werden. Die Sprache des Kunstmärchens ist bewußt gestaltet und trägt immer die künstlerische Färbung des Autors; Formeln werden (wenn sie verwendet werden) nur zur besonderen Betonung benutzt. Komplexität statt linearer Sequenz formt das Strukturbild. Die dem sogenannten „Volksmärchen“ eigene Orientierung an der Unterschicht und an deren Bedürfnissen ist dem Kunstmärchen untypisch. Es geht statt dessen um umfassende existentielle und gesellschaftliche Problemstellungen.

   


Märchen wurden in ihrer ursprünglichen Form von jeher oral tradiert. Von Jacob und Wilhelm Grimm wurden die nunmehr von Herder als „Volksmärchen“ bezeichneten Mären, noch vor der „Entdeckung“ als Inspirationsquell durch die Stürmer- und Dränger als „minderwertige“ literarische Form betrachtet, in die uns heute bekannte Form gebracht.

Somit muß an dieser Stelle betont werden, daß es sich bei den uns bekannten „Kinder- und Hausmärchen“ der Grimmschen Sammlung um Fassungen des 18. und frühen neunzehnten Jahrhunderts handelt, die weiterhin durch die schriftliche Fixierung als historische Form gelten müssen und die sich nicht, wie bei mündlicher Überlieferung, sprachlich und im Motivgehalt weiter entwickelt haben können. Hierdurch findet sich die Wertevorstellung und das Normengefüge der bürgerlichen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts in den Märchen wieder.